Vielleicht hilft uns diese andere Form des Aktivismus dabei zu erkennen, dass Daten in den meisten Fällen – unbedeutend von wem sie erhoben wurden – nur als Argumentationshilfe tauglich sind. Weil wir uns mehr Objektivität und die Wahrheit von Daten erhoffen, haben wir ihnen eine dominierende Rolle im öffentlichen Leben zugestanden. William Deringer, Assistenzprofessor für Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft an der MIT, versucht in seinem 2018 Buch Calculated Values: Finance, Politics, and the Quantitative Age uns dazu zu bewegen, Daten in Zukunft bedachter und effektiver zu nutzen:
Objektiver Maßstab oder Argumentationshilfe?
Zahlen scheinen einen tiefen Wunsch in vielen von uns anzusprechen. Zahlen bilden die Realität ab, hoffen wir. Wir wollen uns lieber auf ihre objektive Kraft verlassen als auf unsere schwankenden Gefühle. Wir sprechen also Zahlen Tugenden zu, an denen es uns selber mangelt. Diese Tugenden verleihen ihnen ein hohes Maß an „Autorität im modernen Denken”. Wir sehen Daten als eine besonders objektive Art von Wissen — als ob sie Differenzen überwinden können. Wir sehen Zahlen als beharrlich an, die nicht so einfach manipuliebar sind; sie scheinen treffsicher unsere Intuitionen und Vorurteile zu durchbrechen, die wir unbewusst und bewusst hegen. Daten und Zahlen geben uns schlüssig deutliche Antworten auf sonst unerfassbare, schwere Probleme. Doch vor allem glauben wir oft (meist unbewusst) dass Zahlen die Wahrheit kundgeben. Aber Deringer (2018) zeigt anhand vieler Beispiele, wie schwer es ist, keine Fehler („Bugs“) in die Berechnungen, Daten oder Modelle einzubauen. Ein Beispiel hier genügt: Der Buchwert der griechischen Staatsschulden betrug angeblich $ 350 Mrd., aber unter Anwendung der IPSAS (International Public Sector Accounting Standards) konnte man auch $ 36 Mrd. ermitteln. Die Rechnungslegung beruht auf einem hohen Maß an Entscheidungsfreiheit und bietet daher einen erheblichen Auslegungsspielraum. Wie objektiv kann also eine einzelne Bilanz sein?
Dementsprechend gibt es Zahlengegner auf der anderen Seite des Extrems, die der Meinung sind, dass Zahlen immer lügen, dass Zahlen parteiisch, unzuverlässig und irreführend sind. Menschen bedienen sich der Zahlen, um Ihr Argument zu untermauern, nicht um die Wahrheit zu ergründen.
Die goldene Mitte
Deringer fordert uns auf, die die feine Mitte zu visieren. Er betont: „Die Tatsache, dass wir Berechnungen so oft verwenden, um zu überzeugen und nicht, um Antworten zu finden, bedeutet nicht, dass es keine richtigen Antworten gibt oder dass man sie nicht manchmal durch Berechnen ermitteln kann.“ Wenn beispielsweise zwei Seiten eines Streits Finanzmodelle für ihre Argumentationen verwenden, um ein Argument vorzubringen, kann eine dritte Instanz (z. B. ein Gericht) entscheiden, welches Modell plausibler ist. Berechnungen und Zahlen können uns helfen, ganzheitlicher und kritischer über schwierige und komplexe Probleme nachzudenken, indem sie uns weitere Sichtweisen auf ein Problem zeigen. Berechnungen sind ein Instrument, das unser Denken unterstützt und uns hilft, unsere Annahmen zu hinterfragen. Aber wir sollten sie nicht wörtlich nehmen oder ihnen zu viel Glauben schenken. Daten sind nur ein Werkzeug. Das ist auch schon in den Wort Kalkulation (in Englisch: Calculation) sichtbar, betont Deringer. Das Wort kommt zwar aus dem Spätlateinischen calculatio (Berechnung), bezeichnet aber auch den Akt der kühlen, herzlose Planung um eine Situation zum eigenen Vorteil zu kontrollieren.