Haben Sie auch schon schon öfters daran gezweifelt, ob es überhaupt möglich ist in unserem heutigen Wirtschaftssystem, das viele gerne als Kapitalismus bezeichnen, den Klimawandel zu stoppen? Können Sie sich auch keine praktikable Alternative zum Kapitalismus vorstellen? Ich bisher auch nicht. Aber um dieses schwarze Loch in meiner Fantasie mit Farbe zu bemalen, besuchte ich eine Debatte in London, die Antworten versprach.
Die Debatte war ausverkauft, das Ondaatje Lecture Theatre im Royal Geographical Society Gebäude im Herzen von London bis auf die hinterste Tribüne gefüllt. Kein Wunder, denn vier der bekanntesten Stimmen aus Englands Umweltszene sind zusammengekommen, um die Frage zu debattieren, die uns fesselt und uns zum Streiten anregt: Müssen wir uns vom Kapitalismus verabschieden, wenn wir einen Klimakollaps verhindern wollen?
Ein gespaltenes Publikum
Von meinem Platz auf dem Balkon ganz hinten sah ich alle der rund 700 Interessierten. Das ältere Ehepaar, das eng zusammen saß, die laut flüsternde Freundesgruppe, die jungen Studenten, die ihre Laptops schon aufgeklappt hatten. Auch ich hatte Stift und Block gezückt. Was für eine Alternative würden die Redner uns vorstellen? Die Luft sog die Anspannung auf, der Raum war elektrisiert.
Vor dem Start der Debatte stimmten die Zuschauer über die Frage ab. Warum so viele Leute ihren Donnerstagabend opferten, und wie ich, weite Wege aus anderen Teilen von England auf sich genommen hatten, um die Debatte zu verfolgen, machte das Ergebnis dieses Votums deutlich. Wir waren gespalten. 38% glaubten, dass wir Kapitalismus abschaffen müssen, wenn wir ein Klimachaos verhindern wollen. Eine Mehrheit, aber weit entfernt von einer klaren Mehrheit. Denn fast genauso viele waren unentschlossen (34%), so wie ich. Uns galt es zu überzeugen — in die eine oder andere Richtung. Wir würden entscheiden, welche Seite am Ende eine Mehrheit beanspruchen kann. Diese Gruppe zeigte bei der zweiten Abstimmung nach der Debatte deutlich, welche Seite sie überzeugender fand. Was genau überzeugte sie?
Die Redner
Für diese Überzeugungsarbeit hat der Veranstalter, Intelligence Squared, für beide Seiten sehr angesehene und bekannte Vertreter geladen. Gegen Kapitalismus argumentierte George Monbiot und Farhana Yamin. Dass wir auch im Rahmen des Kapitalismus die Klimakrise bewältigen können, argumentieren Tony Juniper und Adair Turner.
Drei der Redner nutzten das Ereignis, um ihre Bücher, natürlich handsigniert, zu verkaufen. Auch ich nutzte die Chance, ein Buch zu erwerben, aber fragte mich dabei: Ist der Buchverkauf ein Zeichen dafür, dass auch unsere Redner noch in den Ketten des Kapitalismus liegen?
George Monbiot (geb. 1963) arbeitet als Journalist für die linksliberale britische Zeitung The Guardian. Der 59-jährige studierte Zoologe aus Oxford ist als Klimaaktivist bekannt, der sich in den Medien laut für stärkere Klimaschutzmaßnahmen und Umweltschutz einsetzt. Seinen eigenen Lebensstil hat er seiner Überzeugung angepasst und versucht nicht zu fliegen, lebt vegan und hat lange in einem emissionsreduzierten Haus gelebt. |
Farhana Yamin (geb. 1965) ist Anwältin im internationalen Umweltrecht und führende Aktivistin bei der in England sehr großen Extinction Rebellion Bewegung. Genau wie Monbiot hat sie in an der Universität Oxford studiert. Als Anwältin hat sie viele Jahre am Ausbau der Kohlenstoffmärkte gearbeitet. Jedoch wurde sie immer frustrierter, dass so wenig geschah, was der Dringlichkeit gerecht wurde. Auf der Suche nach schnelleren, radikaleren Lösungen, wurde sie Mitglied bei Extinction Rebellion und hat sich im Rahmen der Proteste unter anderem an das Büro von Shell in London geklebt, woraufhin sie festgenommen wurde. |
Tony Juniper CBE (geb. 1960) ist ehemaliger Direktor der Umweltorganisation Friends of the Earth in England, der Schwesterorganisation vom BUND Naturschutz in Deutschland. Er ist als Experte zum Schutz von Papageien bekannt und arbeitet als Nachhaltigkeitsberater für Organisationen und Firmen. 2010 versuchte als Direktkandidat der Grünen (the Green Party) in Cambridge ins britische Parlament zu kommen. Unter den vielen Büchern, die er geschrieben hat, befindet sich auch “What Has Nature Ever Done For Us?” (2013) |
Der Geschäftsmann Adair Turner (geb. 1955) ist ehemaliger Chef der Englischen Klimawandelkommission und der Energiewendekommission. Er stand der Financial Services Authority (FSA) nach der Finanzkrise bis zu deren Schließung vor, aber auch der Confederation of British Industry (CBI), welche die Financial Times als die größte britische Lobbygruppe bezeichnete. Heute ist der 66-jährige Mitglied des House of Lords. Seine Karriere begann in 1979 bei der Ölfirma BP (British Petroleum). |
Das Format
Die vier Redner waren nicht gekommen, um zu plaudern, sondern um zu debattieren. Wir kennen es noch aus der Schule, als die Lehrer uns eine Position zuteilten und wir 15 Minuten lang für oder wider die Legalisierung von Kannabis diskutieren mussten. Erst darf einer für den Vorschlag sprechen, dann einer dagegen argumentieren, dann wieder einer dafür und so weiter. So funktionierte es an diesem Abend auch. Jeder Redner hatte genau 8 Minuten Zeit uns entweder vom Kapitalismus zu überzeugen — oder von dessen Ungeeignetheit. Der Auftrag war nicht, Kompromisse zu finden oder Wissen auszutauschen, sondern seine Seite besonders gut aussehen zu lassen.
Was bedeutet: „Klimakollaps verhindern“?
Alle vier Redner waren sich einig, dass es bei einem Anstieg der Temperaturen über 1.5 Grad Celsius und vielmehr über 2 Grad zu einem Klimakollaps kommen wird. Das bedeutet, dass wir bis 2050 null Emissionen haben müssen, nicht netto, sondern brutto, wie Turner betonte – also null Emissionen ohne Ausgleichsaktivitäten. Worüber sie jedoch streiten: Kann es mit Kapitalismus gelingen oder müssen wir, wenn wir das Ziel noch erreichen wollen, uns zuerst vom Kapitalismus verabschieden?
Paul Mason (2015) behauptet in seinem Buch Postcapitalism “Es ist üblich über die absurden Behauptungen der Klimaleugner zu spotten, aber ihre Haltung besitzt einen rationalen Kern. Sie wissen, dass die Klimawissenschaft ihre Autorität, ihre Macht und ihre Wirtschaftsordnung bedroht. In gewisser Weise haben sie begriffen, dass wenn der Klimawandel echt ist, auch der Kapitalismus ein Auslaufmodell ist. Die wahren Verrückten sind nicht die Klimaleugner, sondern die Politiker und Ökonomen, die glauben, dass die bestehenden Marktmechanismen den Klimawandel aufhalten können, dass der Markt die Grenzen des Klimaschutzes festlegen muss und dass der Markt so strukturiert werden kann, dass er das größte Umstrukturierungsprojekt der Menschheit ermöglicht.” Hat Mason Recht?
Monbiot: Die 3 Hauptmerkmale des Kapitalismus treiben uns in den Klimakollaps
Der erste Sprecher war George Monbiot. Sein Ziel: uns zu überzeugen, dass wir den Kapitalismus abschaffen müssen, wenn wir einen Klimakollaps verhindern wollen. Er begann, wie es sich gehört, mit dem Definieren von den Worten “Kapitalismus” und “Klimakollaps”.
Was ist Kapitalismus, eigentlich?
Starten wir also auch mit der Definition von Kapitalismus. Ich kann mir vorstellen, dass Sie, genau wie ich, den Begriff „Kapitalismus“ gerne in Diskussionen einwerfen. Aber könnten Sie ihn definieren? Was sind die wesentlichen Kennzeichen eines kapitalistischen Systems, die uns zeigen, dass es sich um Kapitalismus und nicht eine andere Form des Wirtschaftens handelt? Wo fängt Kapitalismus an, und ab welchem Punkt nennen wir es nicht mehr Kapitalismus?
Monbiot sagt, dass Kapitalismus ein System beschreibt, in dem die Faktoren der Produktion in privaten Händen liegen, also Arbeit und Kapital, um Profite und Reichtum zu generieren und zu akkumulieren. Es startete etwa in der Mitte des 16. Jahrhunderts in Großbritannien und kommerzialisierte Land, Arbeit, und Geld. Dieser Kapitalismus habe drei Eigenschaften, die uns auf gerader Linie in den Klimakollaps treiben. Diese drei Merkmale bedeuten, dass „wir den Kapitalismus und ein bewohnbares Klima nicht aufrechterhalten können“.
Merkmal #1: Wachstum
Wir brauchen steigenden Konsum, um Gewinne, Wachstum und Kapitalismus zu wahren. Es sei aber offensichtlich, dass auf einem endlichen Planeten kein ständiges Wachstum möglich ist. “Ohne Wachstum ist der Kapitalismus zum Scheitern verurteilt”, sagt Monbiot.
Monbiot erkennt an, dass viele behaupten, dass wir das Wachstum entkoppeln können, also unsere Umweltbelastung senken, während wir weiter wachsen. Sie zitieren unter anderem eine Studie, die schätzt, dass wir zwischen 2000 und 2014 entkoppelt haben, eine Verringerung der Treibhausgasemissionen in den reichsten Ländern, obwohl das Wirtschaftswachstum im gleichen Zeitraum „gestiegen“ ist: 24 % Rückgang der Emissionen, obwohl der Verbrauch um 27 % gewachsen ist. Aber Monbiot schildert, dass diese Studie nur die territorialen Emissionen betrachtet habe. Die Klimawissenschaftswebseite CarbonBrief untersuchte die Daten aus der Perspektive der Verbrauchsemissionen und fand eine Verringerung der Treibhausgasemissionen um etwa 0,6 % pro Jahr. Beziehe man auch den Flug- und Schiffsverkehr mit ein, liegt die Zahl bei ca. Null, zeigt Monbiot. Aber hat das Vereinigte Königreich in diesem Zeitraum nicht „massive Anstrengungen“ unternommen, um die Treibhausgasemissionen zu senken? Isolierung von Häusern, Verabschiedung des Climate Change Act, Umstellung von Kohle auf Gas, Subventionierung erneuerbarer Energien, Austausch von Glühbirnen. Ja, sagt Monbiot, doch diese „Anstrengungen wurden durch das Wirtschaftswachstum zunichte” gemacht.
Merkmal #2: Geld auf dem Bankkonto ist gleichbedeutend mit dem Recht auf natürlichen Reichtum
Die Annahme, dass Geld seinem Besitzer ein Recht auf natürlichen Reichtum gibt, herrscht spätestens seit dem Philosophen John Locke im 17. Jahrhundert. Diese Annahme macht es möglich: Man kann so viel Kohlenstoff verbrennen, so viel Fleisch essen, so viel Gold oder Land besitzen wie man möchte — solange man dafür auch bezahlen kann. Das macht den Kapitalismus zu einem „lausigen Weg, unsere Probleme zu lösen”: Diejenigen mit Geld werden sich „den Löwenanteil nehmen“ und andere Menschen benachteiligen. Monbiot zitiert eine Studie, die besagt, dass es ein Wirtschaftswachstum von 111 Dollar bräuchte für jedes Verringern der Armut um 1 Dollar. Um sicherzustellen, dass jeder Mensch auf diesem Planeten mit mindestens 5 Dollar pro Tag auskommen kann, müssten wir die Wirtschaft um das 170-fache vergrößern — und das würde 200 Jahre dauern. Aber wir stoßen bereits jetzt an die Grenzen der Erde, stöhnt er. Eine 170-mal größere Wirtschaft würde nicht das Ende der Armut bedeuten, sondern auch das Ende des Lebens für uns auf der Erde.
Merkmal #3: Jeder kann nach privatem Luxus streben, wir können alle reich werden
Die reichsten 1% der Erde verbrauchen 175 Mal so viel Kohlenstoff wie die Ärmsten, erklärt er. Selbst wenn wir das Problem der Verteilung (Merkmal 2) außer Acht lassen, gibt es nicht genug Platz auf diesem Planeten, um jedem dieses Maß an privatem Luxus zu ermöglichen. „Der einzige Grund, warum einige Leute es können, ist, dass andere es nicht können.“ Was möchte er tun, um diese Ungerechtigkeit, dieses Ungleichgewicht zu verändern, frage ich mich?
Monbiots Vision
Wir brauchen ein System, das auf einem anderen Prinzip beruht: „Private Suffizienz und öffentlicher Luxus”, erklärt er. Es sei genug für alle da, solange wir es teilen. Es sei nicht genug da, solange wir versuchen, es anzuhäufen. Am Ende stellt er uns vor dieses Dilemma: „Stoppen wir den Kapitalismus, damit das Leben weitergehen kann, oder stoppen wir das Leben, damit der Kapitalismus weitergehen kann?“
Adair Turner: Kapitalismus für die einen abschaffen und für die anderen behalten — aus Gerechtigkeit!
Unterscheide zwischen Globalen Norden und Globalen Süden
Turner unterscheidet zwischen unserer Realität im globalen Norden und der Realität in den Entwicklungsländern. Hier können wir vielleicht fordern, dass wir unseren Lebensstil ändern. Aber wenn er das auf seinen Beratungsreisen nach Indien oder China fordern würde, dann wäre jedes Gespräch sofort beendet. Diese Länder sind erst auf dem Weg und streben auch den Genuß unseres westlichen Lebensstils an. Man werde sie nicht davon überzeugen können, Kapitalismus abzulehnen. China erwartet hohes Wirtschaftswachstum. Man kann sie nur überzeugen, etwas für den Klimawandel zu tun, wenn man ihnen zeigt, dass sie alles haben können, was sie anstreben — auch mit einer klimafreundlichen Wirtschaft. Das geht nur, wenn die Marktmechanismen genutzt werden können, um die Preise zu senken.
Laut Turner sind die Kosten der Investitionen, die dafür in den Entwicklungsländern nötig sind, um sauberes Wirtschaftswachstum zu ermöglichen, sehr gering. 1-2% unseres BIPs. Klimafreundliches Wirtschaftswachstum für die Entwicklungsländer mit unserer Hilfe schienen auch Monbiot und Yamin nicht zu bestreiten.
Technik und Regulierung ist die Lösung gegen die Klimakrise
Aus diesem Grund sieht Turner Lebensstiländerungen nur als ein Teil der Lösung an. Wenn wir den Klimawandel aufhalten möchten, dann schlummern die wirklichen Chancen im Bereich der Technik und Energie: Wir müssen auf (A) Energieeffizienz und (B) Erneuerbare Energien setzen. Das ist technisch schon heute umsetzbar. Turner meint, “Der beste Weg, dies zu erreichen, sei nicht die Ablehnung des Kapitalismus, sondern die Regulierung, Besteuerung und Lenkung kapitalistischer Aktivitäten, wobei Anreize für privates Unternehmertum und der Wettbewerb auf dem Markt genutzt werden sollten, um das Ziel mit möglichst geringen Kosten zu erreichen.” Mit anderen Worten möchte Turner, dass die Politik den Kapitalismus dazu zwingt, die richtigen Ziele zu verfolgen. Aber dann sollte sie es der Wirtschaft überlassen, die Details auszuarbeiten. Denn solange die Unternehmen nach Profit streben, können sie das besser: sie werden, jeder für sich, den kosteneffektivsten Wege finden, die Dekarbonisierungsziele zu erreichen.
Steigender Energie-und Rohstoffverbrauch
Ist das auch möglich ist, wenn unsere Wirtschaft immer weiter wächst und deshalb unser Energiebedarf immer schneller nach oben saust? Monbiot argumentierte, dass es nun einmal auf einen endlichen Planeten Grenzen bei der Rohstoffversorgung gibt. Turner entgegnet, dass mit erneuerbaren Energien diese Grenzen nicht mehr relevant sind: die Sonne biete uns jeden Tag 8000x so viel Energie an, wie wir Menschen derzeit brauchen. So könnten wir also noch ziemlich lange wachsen, meint er. Doch was ist mit dem Material, den es zum Einfangen von der Sonne braucht, stoßen wir da an Grenzen?
Ein Spiel mit der Definition
Turner widerspricht schon im Voraus denen, die meinen, dass das doch nicht mehr Kapitalismus sei. Er denkt, dass es Kapitalismus in vielen verschiedenen Formen geben kann, und wir die Form, die uns am besten gefällt, auswählen können: “Kapitalismus bedeutet im Wesentlichen ein System, in dem die meisten, aber nicht unbedingt alle Produktions-, Verteilungs – und Tauschmittel von privaten Unternehmen betrieben werden, die auf Märkten miteinander konkurrieren, um Profit zu machen.“ Kapitalismus blüht auf, wenn er strikt reguliert sei. Das zeigen die 1950er und 1960er Jahre — seiner Ansicht nach die erfolgreichsten Jahre des Kapitalismus.
Sogar Monbiot finde die Arbeit von manchen Firmen gut, sagt Turner. Er berichtete, dass Monbiot in seinem jüngsten Dokumentationsfilm über Fleischalternativen extra nach Finnland gereist sei, um ein Startup zu besuchen — eine kapitalistische Firma, von der die Investoren Gewinne erwarten, um für die Risiken, die sich auf sich genommen haben, entschädigt zu werden. Die Firma sei motiviert, Gutes zu tun, aber auch davon, Profite zu machen.
Yamin: Kapitalismus wird von Ausbeutung getragen
Farhana Yamin sieht die Ungerechtigkeit: Der Klimawandel verschlimmert schon heute die herrschenden Ungleichheiten unter uns Menschen und der Kapitalismus schaut zu und tue nichts. Er kann nichts gegen die Ungleichheit tun, denn er funktionere nur mit ihr. Yamin beobachtet, dass die meisten Emissionen auf ein paar Reiche zurückzuführen sind. Wenn wir den Klimawandel im Kapitalismus stoppen wollen, dulden wir, dass die Welt noch ungleicher und ungerechter wird.
Monbiot’s Definition von Kapitalismus ergänzt sie um das Bild einer “Pyramide der Ausbeutung”, eine “Pyramide, in der Mensch und Natur unten zu finden sind und Gewinne, Reichtum und Macht sich nach oben auftürmen“.
Für regulierte Emissionsmärkte habe sie selber Jahrzehnte gekämpft. Bis sie merkte, wer ihre Narrative kontrollierte: die Firmen, die den Klimawandel provozieren — die Ölfirmen, die Gasfirmen, die Rohstoffunternehmen. Die Ölfirma Saudi Aramco sei die profitabelste Firma der Welt, $3000 Gewinn erntet die Firma — pro Sekunde. Jede Sekunde, in der sie die Energiewende verlangsamen können sei wortwörtlich Gold für diese Firmen. Doch ist Saudi Aramco eine Firma, wie sie Turner beschrieb? Hier zeigt sich, dass es bei der Diskussion über Kapitalismus um mehr als nur privater oder staatlicher Wirtschaft geht. Denn ist Saudi Aramco ein staatliches Unternehmen und trotzdem laut Yamin das profitabelste Unternehmen der Welt.
Bei uns in Europa finanziere der Staat größtenteils unsere fossile Brennstoffunternehmen. Und solange der Staat sich auf diese Weise einmische, solange die Staaten auf dieser Erde ihre Kohle, Öl und Gasfirmen weiterhin mit Subventionen in der Höhe von $ 5 Billionen pro Jahr unterstützen, wird die Technik, die erneuerbare Energien mittlerweile so wirtschaftlich attraktiv macht, sich nicht durchsetzen, musste sie feststellen. Es geht bei der Regulierung von Öl und Rohstofffirmen nicht um Technik, sondern um Geopolitik, erklärt Yamin. Doch die Frage, was für eine Auswirkung das Abschaffen von Kapitalismus auf die Geopolitik haben würde beantwortete sie nicht.
Was können wir tun? Yamin plädiert für einen Green New Deal, ähnlich wieder der Marshall Plan nach dem zweiten Weltkrieg. Wir sollten aufhören Steuergelder den Ölfirmen nachzuwerfen, die gesparten Geldmengen können wir dann in den Green New Deal investieren. Außerdem wären Bürger bis jetzt zu wenig involviert worden. Alle Vorstände sollten künftig zwingend einen Stuhl für eine Vertreterin oder einen Vertreter aus der Bevölkerung bereitstellen. Außerdem wird Land in Yamins neuem System stark besteuert. Es werde Miteigentümerschaft und Mitgestaltung geben. Das sei alles nicht neu, die Vision hätten wir schon lange: Wir nennen sie auch die Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals), beendet Yamin ihre Rede.
Doch wie bei Monbiot blieb ihre Vision verschwommen vor meinem inneren Auge. Als sich Yamin wieder setzte, wurde mir mein Problem klar: Wie viele andere junge Menschen hatte mein Bauch das Vertrauen in den Kapitalismus verloren. Laut einer Studie der Harvard University sind die meisten Millennials gegen den Kapitalismus (51%) und nur 41% befürworten ihn. Gegen was genau sind sie? Mein Kopf, gefüllt mit Fakten und Theorien aus Stapeln an Büchern zu diesem Thema, kann sich keine Alternative vorstellen. Ohne Kapitalismus stehe ich vor einem schwarzen Loch. Mir mangelt es an Vorstellungskraft, eine Alternative zu sehen. Monbiot und Yamin haben es beide nicht geschafft, den schwarzen Abgrund mit Farbe zu bestreichen. Monbiot sagte, es wäre einfacher sich das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorzustellen. Das stimmt – zumindest für mich noch (nicht zuletzt dank der vielen apokalyptischen Science-Fiction Filme, die uns im Kino regelmäßig präsentiert werden).
Tony Juniper hat eine Lösung: Ein 5-Punkte Umbauprogramm des Kapitalismus
Welche Art von Wirtschaftssystem es uns erlauben werde, mit dem Klimawandel und den Naturkatastrophen angemessen umzugehen sei die wichtigste Frage von allen im Moment, ist sich Juniper sicher.
Aber er erinnert uns daran, dass sowohl das kapitalistische als auch das sozialistische System versuchten, die Produktion zu steigern, um zu wachsen und den Wohlstand und Lebensqualität der Bewohner zu steigern. Wachstum war für beide System das zentrale Ziel. Bis jetzt haben wir noch kein großflächiges ökonomisches System erfunden, das ökologisch nachhaltig sei. Die Bürger auf der ganzen Welt wählen und entscheiden sich immer wieder für diese Systeme. Das stimmt, aber was haben sie für eine andere Wahl, frage ich mich. Er findet es viel wahrscheinlicher, dass diese Bürger für einen reformierten Kapitalismus stimmen werden. Anstelle den Kapitalismus abzuschaffen, sollten wir also lieber den Erfindungsreichtum der Märkte, den Wettbewerb und das Gewinnstreben “nutzen”.
Aber das Problem kennen wir alle, betont er, deshalb würde er uns jetzt seine Lösung präsentieren: Ein 5-Punkte Umbauprogramm des Kapitalismus. Es wurde noch leiser. Auf Lösungen hatten die meisten gewartet, so wie ich.
Punkt 1: Harte Grenzwerte
Der erste Punkt sei, dass es harte Grenzwerte brauche. Die internationale Staatengemeinschaft müsse sich auf harte Limits einigen und diese dann in nationale Ziele verwandeln.
Punkt 2: Harte Regulierungsinstrumente
Und unsere neuen Ziele erfordern neue, klare Regeln, damit wir sie erreichen können: z.B. Regulierung der Finanzmärkte, Bepreisung von Kohlenstoff.
Punkt 3: Neu ausgerichtete Subventionen
Drittens müssen wir die Subventionen auf umweltfreundlichere und sauberere Alternativen umstellen. Hier scheinen sich alle Vier einig zu sein. Durch die frei werdenden öffentlichen Gelder können auch Projekte gefördert werden, die vielleicht nicht profitabel, aber wichtig für den Klimaschutz sind, denke ich mir. Die öffentliche Hand wird zur Unterstützung von Klimaanpassungsprojekten benötigt, die nicht profitabel sind, so Dr. Katherine Owens, Dozentin für Umweltrecht an der juristischen Fakultät der Universität Sydney.
Diese drei Schritte würden dafür sorgen, dass das eigentliche Kapital der Wirtschaft, eine gesunde Biosphäre, angemessen gewahrt wird, stellt Juniper zufrieden fest. Die übrigen beiden Schritte sollen sicherstellen, dass der Kapitalismus wirklich „langfristiges Wohlergehen für alle“ liefert, denn wie wir nach Juniper wissen, können egoistische Käufer und Verkäufer dies nicht automatisch gewährleisten. Aber kann Kapitalismus das überhaupt? Auf die Kritik von Yamin und Monbiot ging Juniper nicht ein.
Punkt 4: Erinnere den neoliberalen Kapitalismus daran, warum er überhaupt existiert
Im vierten Schritt besinnen wir uns zurück auf den eigentlichen Zweck der Wirtschaft. Es brauche die Einführung neuer Kennzahlen, anhand derer wir den Erfolg der Wirtschaft messen können. Das BIP müsse “auf den Müllhaufen der Geschichte, wo es hingehört”.
Ich frage mich aber: Ist es noch Kapitalismus, wenn wir ein anderes Ziel anvisieren? Soll Gemeinwohl auf volkswirtschaftlicher Ebene ein zusätzliches Ziel sein oder darf sich das BIP dem Gemeinwohl unterordnen? Und auf betriebswirtschaftlicher Ebene: Bleibt es die oberste Priorität der Unternehmen, Profite zu erwirtschaften, so wie es viele Gesetze es im Moment fordern? Und solange das Ziel noch der Profit ist, welches Ziel wird zurückstecken müssen, wenn es einen Konflikt zwischen Profit und Gemeinwohl gibt? Im Kapitalismus wird Profit letztendlich immer bevorzugt werden, meinen Wright und Nyberg (2015). Die australischen Wirtschaftswissenschaftler sind nach einer ausführlichen Untersuchung vieler multinationaler Konzerne zu dem Schluss gekommen, dass der Dreiklang People, Planet and Profit nicht funktioneren kann, auch wenn sich die Nachhaltigkeitsbeauftragten der Firmen dafür einsetzen. Sie präsentieren ihre Argumentation und Interviews in ihrem Buch Climate Change, Corporations and Capitalism. Das System ist “von Natur aus nicht nachhaltig” meint auch Monbiot. Turner möchte kontrollierten Kapitalismus.
Punkt 5: Privatwirtschaftliche Unternehmen sollen den neuen Gesetzen unterworfen werden
Und in seinem fünften und letzten Punkt möchte Juniper private Firmen. Sie sollen den Wohlstand aller Menschen und nicht nur den der Aktionäre im Auge haben, gleichzeitig aber die Innovationen und Märkte für Gewinne nutzen. Hiermit meint er aber das Streben nach „Gewinnen, nicht notwendigerweise nach Gewinnmaximierung oder Gewinn auf jeglichem legalen Weg“. Denn “Ihr Ziel sollte eine nachhaltige Entwicklung sein“.
Die Regierungen können diese Punkte gesetzlich verankern, und sie beginnen auch schon, dies auf globaler Ebene zu tun. Diese Bemühungen müssen nun „angekurbelt“ werden. Sein Argument ist, dass es „nicht der Kapitalismus per se“ ist, der dieses Chaos verursacht habe, sondern unsere Wirtschaftssysteme „im weiteren Sinne”, also alle Systeme, die wir bisher erfunden haben, so auch der Sozialismus. Die beste Chance, die wir jetzt haben: den Kapitalismus reformieren. Ihn „über eine Klippe“ zu stürzen, „das wird in einer noch gewisseren Katastrophe enden”.
Der Schuldige ist also ermittelt. Aber wie lautet das Urteil?
Alle Redner waren sich einig über die Probleme, die der Kapitalismus kreiert hat. Ausbeutung der Natur und Menschen, Akkumulation von Reichtum bei einigen zu wenigen. Sie sahen die Klimakatastrophe auf die wir freudig zu hüpfen, ihre Stimmen bebten mit einer Feurigkeit, das zu verhindern. Sie alle arbeiteten jeden Tag daran. Aber sie unterschieden sich in der Ansicht darüber, ob eine Reformation ausreichen würde, um die guten Seiten des Kapitalismus für uns arbeiten zu lassen. Abschaffen deutet auf einen Bruch hin – das alte wird ausgekehrt, um Platz für etwas Anderes, etwas Neues zu schaffen. Reformation lässt ein Meißeln an den Rändern vermuten. In was unterscheiden sich also die beiden Seiten?
Das Streitgespräch beginnt
Ist der Versuch, Kapitalismus zu reformieren, nicht längst gescheitert?
Hierzu antwortet Yamin, dass es nicht so wäre, dass viele nicht schon früher an diese Punkte gedacht hätten. Sie hätten in den letzten 30 Jahren immer wieder versucht, gesetzliche Auflagen und Höchstgrenzen einzuführen. Monbiot sagt, dass die andere Seite es nicht geschafft haben, zu zeigen, warum wir bis jetzt noch nicht gewonnen haben aber jetzt plötzlich eine bessere Chance hätten, den Kapitalismus in die richtige Bahn zu lenken. Er habe den 5-Punkte Plan von Juniper schon sein ganzes Arbeitsleben (35 Jahre) gehört. Für ihn ist das System von Natur aus unreformierbar, denn es sei ein System zur Akkumulation von Macht, Reichtum und natürlichen Ressourcen. Deshalb müsse das System gestürzt werden. Turner entgegnet auf die Frage: Warum sollte es leichter sein, das Argument für die Abschaffung des Kapitalismus zu gewinnen als für eine bessere Regulierung des Kapitalismus?
Wie sieht die Alternative zum Kapitalismus aus?
Den Vorwurf, Monbiot und Yamin, hätten keine Alternative zum Kapitalismus vorgeschlagen, wirft Turner vor. Und ich merke, wie ich automatisch mit dem Kopf nicke. Hier scheint mir der Kern der Debatte zu liegen.
Turner behauptet, dass die Alternative zum Kapitalismus öffentliches Eigentum ist und dass die ökologischen Wirkungen der Sowjetunion viel dramatischer waren als diejenigen des Kapitalismus. Hinter dem Argument verbirgt sich aber noch ein anderes Narrativ. Turner bewege sich zwischen dem Gegensatz: privates oder staatliches Eigentum. Die einzige Alternative, die er sich deshalb vorstellen kann, sieht deshalb dem Kommunismus zum Verwechseln ähnlich. Monbiot stöhnt über die Annahme, dass man ein Kommunist sein müsse, wenn man gegen den Kapitalismus sei. Es gäbe viel mehr Möglichkeiten als nur eine binäre Wahl zwischen Staat und Markt.
Die Allmende wird beispielsweise meistens vergessen, erklärt er. Hier kümmern sich weder der Staat noch der Markt um die Verwaltung von Land oder anderem Eigentum. Die lokalen Gemeinden haben die Kontrolle und tragen mehr Entscheidungsgewalt, als ihnen in Kapitalismus oder Kommunismus zugestanden wird. Dagegen antwortet Juniper, dass er seine Karriere damit verbracht hat, die Tragödie der Allmende (“Tragedy of the commons”) zu bekämpfen. Die Allmende werde deshalb nicht die Lösung sein, vor allem nicht ohne sehr strenge Regulierung, die auch den Kapitalismus einzäunen könne. In Monbiots Ansicht wurde jedoch diese Tragödie schon längst diskreditiert.
Ist das kapitalistische System in Finnland nicht attraktiv, fragt Turner? Ich muss auch Länder, wie Costa Rica denken, die erfolgreich wieder aufgeforstet haben und ihren Regenwald schützen gegen Zerstörung, innerhalb des Kapitalismus; oder an Bolivien, die Buen Vivir (ein gutes Leben) zum Staatsziel erhoben haben; oder an die Länder der Allianz der Wohlfahrtsökonomie (Wellbeing Economy Alliance), wie Neuseeland und Island. Befinden diese Länder sich nicht auf dem richtigen Weg, trotz Kapitalismus? Diese Länder scheinen mir auf einem umweltfreundlicheren Weg zu sein als das nicht direkt kapitalistische China. China verfüge über eine Form der Marktwirtschaft, die viele Merkmale eines kapitalistischen Systems aufweist, erklärt Turner. Vor Ort sage man: „Eine sozialistische Wirtschaft mit chinesischen Merkmalen”, berichtete Turner aus seinen Erlebnissen in China. Natürlich seien die Ausprägungen des Kapitalismus in verschiedenen Ländern unterschiedlich stark, stimmt Yamin zu. Aber auch die netten Formen können nicht mit dem Ausmaß der Herausforderung umgehen: Denn auch das “nette Norwegen” drille noch weiter nach Öl in der Arktis, gibt sie zu bedenken.
Reicht es dem Kapitalismus ein neues Ziel anzuziehen?
Juniper stimmt Yamin und Monbiot völlig zu, dass wir „das System ändern“ müssen. Aber er betont, dass hierzu erst zwei Fragen beantwortet werden müssen: (1) Wohin? (2) Wie? Irgendwie müssen wir doch wissen, wie wir von hier nach dorthin kommen, wo wir als Nächstes hinwollen, moniert er mit Nachdruck. Er habe lange über diese Frage nachgedacht und sei zu dem Schluss gekommen, dass unsere beste Chance darin besteht, das bestehende System entsprechend anzupassen, um auch die demokratische Akzeptanz für Veränderung zu bekommen. Was wir brauchen, ist eine praktikable Alternative, die die Stimmen der Wählerinnen und Wähler erhalten wird. Unsere beste Chance sei: das, was wir haben, in etwas umzuwandeln, das “irgendwie ökologisch nachhaltig”. Denn fast alle wichtigen Güter werden heute von kapitalistischen Institutionen bereitgestellt. Was würde also passieren, wenn wir den Kapitalismus an den Rand drücken — Hungersnöte, Arbeitslosigkeit? Wir sollten die Zeit, die es bräuchte, den Kapitalismus abzuschaffen lieber dafür verwenden, das System zu reformieren, Subventionen abzuschaffen, eine CO2-Steuer einzuführen. Er ruft dazu auf, dem Kapitalismus einen Zweck anzuziehen — raus aus dem BIP, rein in das Gemeinwohl. Es folgte der lauteste Applaus, den ich diesen Abend hörte.
Ergebnis
Und dieser Applaus zeigte sich im Abschlussvotum: So wechselten 27% der Unentschiedenen zu der Meinung, dass wir Kapitalismus nicht abschaffen müssen, um das Klima zu retten, und verwandelten die „Reformer des Kapitalismus“ in eine klare, absolute Mehrheit (58%).