Bevor es Geld gab, tauschten die Menschen auf dem Markt Gegenstände, erklären die Lehrbücher über Geldwirtschaft. So musste John, der Schuhe herstellte, jemand anderen, der Brot herstellte und Schuhe brauchte, auf dem Markt finden, um seiner Familie Abendbrot auf den Tisch zu stellen. Doch wie viel Brot war ein Paar Schuhe wert und was tat er, wenn gerade keine andere Person auf dem Marktplatz Schuhe benötigte?
Problematik der doppelten Übereinstimmung von Bedürfnissen
Jeder Tag auf dem Markt war für John wie die Lottozahlen am Samstagabend. Denn er konnte nur handeln, wenn es an jenen Tag zu einer „doppelten Übereinstimmung von Bedürfnissen“ kam, also wenn John gerade Brot wollte und ein Bäcker gerade Schuhe suchte — in den richtigen Mengen. Dass dieser Tauschhandel ein mühsames Unterfangen ist, ist nicht schwer nachzuempfinden, vor allem für die Mitglieder einer Gesellschaft, die nur weniger gefragte Angebote anzubieten hatten. Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Mishkin illustriert dies in seinem Lehrbuch über die Geldwirtschaft anhand eines Beispiels: Ein Wirtschaftsprofessor wie er könne lediglich Nachhilfe in VWL anbieten. Aber wie wahrscheinlich ist es, dass gerade die Bedienung im Restaurant, das er gewählt hat, Nachhilfe in diesem Fach wünscht?
Geld als Erleichterung
Um den Tauschhandel zu vereinfachen, erfanden unsere Vorfahren deshalb Geld als Tauschmedium (medium of exchange). So musste John die Schuhe nicht mehr an den Bäcker verkaufen, um Brot zu erwerben. Er konnte sie auch in Tausch für Geld an einen Wirtschaftsprofessor verkaufen und dieses Geld gegen das Brot des Bäckers tauschen. Geld fungierte demnach als Schmieröl, um die Reibung der Tauschgeschäfte auf dem Markt zu entfernen. Weniger Glücksspiel, mehr Handelsverkehr.
Evidenzlose Geschichte
Es gibt nur einen Haken: Beweise gibt es nicht für diese Geschichte. Sie scheint eher ein Kind der Imagination früher Ökonomen gewesen zu sein und dann als Erbe von Generation zu Generation weitergegeben worden zu sein. Anthropologen weisen die Ökonomen schon seit längerem darauf hin, dass ihre Forschungen auf einen ganz anderen Ablauf der Geschichte hindeuten.
Professor Dame Caroline Humphrey aus Cambridge zog folgende Bilanz: „Es wurde noch nie ein Beispiel für eine reine Tauschwirtschaft beschrieben, geschweige denn für die Entstehung von Geld: Alle verfügbaren ethnographischen Daten deuten darauf hin, dass es so etwas nie gegeben hat.“ (1992)
Schulden als Normalzustand
Bill Maurer und andere Anthropologen fanden, dass die Völker, die sie studierten, denen noch nicht von der Erfindung des Geldes erzählt wurde, gar nicht auf eine doppelte Übereinstimmung der Bedürfnisse warteten. Sie tauschten Gegenstände wie Muscheln, die auf uneingeweihte Europäer den Eindruck von „primitiven“ Geld machen können, nicht um ihre Tauschgeschäfte zu vereinfachen, sondern um eine soziale Beziehung zu begründen. War eine solche Beziehung erstmal eingegangen, dann wurde untereinander getauscht, aber ohne sofort abzurechnen. Sie nahmen untereinander Schulden auf, beglichen sie wieder, und nahmen neue auf, nur um sie kurz darauf oder auch um einiges später wieder zu verrechnen. In dieser sozialen Beziehung bekäme John Brot vom Bäcker, aus dem Grund, dass dieser wusste, dass er auf John zählen kann, wenn er das nächste Mal Schuhe braucht — oder etwas anderes, wobei ihm John behilflich sein konnte. Keine der beiden hatte das Interesse seine Schulden endgültig zu begleichen, weil das der Beendigung ihrer Beziehung gleichkommen würde.
Buchführung, um Schulden zu dokumentieren
Doch als sich in vielen Teilen der Welt, wie beispielsweise in Ägypten und Mesopotamien, die Menschen um Bewässerungsanlagen scharrten, wuchs die Größe der Gruppen, in denen sich die Menschen bewegten — und mit ihnen die Zahl an Beziehungen, die jeder Einzelne zu pflegen hatte. Bald schaffte es der Einzelne nicht mehr im Kopf zu behalten, wem er wie viel wofür schuldete. Es entwickelten sich neue zentrale Institutionen, die die Schuldverhältnisse dokumentierten. Heute glaubt man sogar, dass die Menschen aus dem Bedürfnis heraus, über die Schulden der Bürger Buch zu führen, unsere Schrift entwickelten. Alles begann mit der „einfachen Buchführung“ (single-entry bookkeeping) auf Tontafeln, die Sie heute noch im Louvre bestaunen können.
Keine gerade Linie
Ein Grund, warum sich die Botschaft der Anthropologen nicht bei den Ökonomen durchgesetzt hat, ist vielleicht, dass sie keine geradlinige Gegennarrative anbieten. Sie stellen zwar eindeutig klar, dass es keinerlei Hinweise dafür gibt, dass unsere Vorfahren in einer Tauschwirtschaft kämpfen mussten, aber sie dokumentieren auch, dass die Entwicklung von der Muschel zum Euro sehr unterschiedlich verlief und eher einer Achterbahn glich als einem klaren Weg von A nach B.
Vom Mythos zum Alltag: Tauschhandel gibt es immer noch
Auch wenn es wahrscheinlich nie eine Gesellschaft gab, die reinen Tauschhandel betrieb, so hat uns der Tauschhandel mit begrenztem Ausmaß doch durch die Geschichte begleitet und begegnet uns im Alltag heute immer noch. Caroline Humphrey and Stephen Hugh-Jones halten in dem Klassiker Barter, Exchange and Value (1992) fest: „Tauschhandel findet statt, wenn kein Geld vorhanden ist und es kein übergeordnetes Geldsystem gibt, aber auch, wenn eine gemeinsame Währung existiert, die Menschen es aber vorziehen, sie nicht zu benutzen (wie z. B. die Lhomi im Nordosten Nepals), oder wenn nicht genug Geld für alle da ist. Der Tauschhandel kann sogar als Lösung für die Probleme des Geldes dienen.“ (1992, siehe auch Maurer 2015)
„Der Tauschhandel sollte also als eine Handelsform unter vielen anderen betrachtet werden, nicht als ein Mittel, mit der man eine ganze Wirtschaft betreiben könnte.“
Humphrey and Stephen Hugh-Jones (1992)
Wenn in Gesellschaften, die ihre Beziehungen bereits auf Geld aufgebaut hatten, das Geld wegfällt, dann greifen die Menschen auf Tauschhandel oder Warengeld, wie Zigaretten, zurück (Graeber 2011). Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion lagerten Unternehmen in Russland beispielsweise Ziegelsteine, um sie gegen andere Güter einzutauschen.
Keine ganze Wirtschaft kann auf Basis von Tauschhandel funktionieren. Schon seit Beginn von größeren Zivilisationen in Mesopotamien (aber auch in Mesoamerika, wie z. B. bei den Inkas) waren Abgaben (Steuern) in Form von Getreide an die Tempel und Paläste und zentralisierte Umverteilungssysteme die wichtigsten Organisationswerkzeuge der damaligen Wirtschaft, während der Tauschhandel vermutlich nebenher im geringem Umfang betrieben wurde (Polanyi, 1957).
Wer erfand das Geld?
Wie sich das Geld schließlich unter die vorherigen Schuldenbeziehungen mischte, bedarf noch einer weiteren Geschichte. Diese erzählen wir in Teil 2.